Lukratives Geschäft für Hebammen und Pfarrer

Kindesraub in Spanien


"Ich wurde für 200.000 Peseten verkauft"

Systematischer Raub von Neugeborenen war auch nach der Franco-Ära verbreitet. Ärzte und Nonnen schweigen. Nun will ein Anwalt sie zum Reden zwingen.

 

Von Ute Müller

 

Systematischer Raub von Neugeborenen war auch nach der Franco-Ära verbreitet. Ärzte und Nonnen schweigen. Nun will ein Anwalt sie zum Reden zwingen. Von Ute Müller

Paloma Moset war 24 Jahre alt, als sie schwanger wurde. Das war 1984, sie war damals unverheiratet. Kurz vor der Entbindung in einer Madrider Klinik kam eine Nonne ins Zimmer und bat sie, angesichts der Umstände das Kind zur Adoption freizugeben. Paloma weigerte sich. Man machte ihr einen Kaiserschnitt und als sie von der Narkose erwachte, sagte ihr der Arzt, sie habe ein totes Mädchen zur Welt gebracht, das Kind sei völlig entstellt gewesen und daher sofort beerdigt worden. "Mir war vom ersten Moment an klar, dass das eine Lüge war, aber ich hatte keine Beweise", sagte die heute 51-jährige, die keinen Tag ihres Lebens aufgehört hat, ihre Tochter zu suchen.

Paloma, die heute in Alicante lebt, ist sich mittlerweile sicher, dass sie und ihr Kind Opfer eines landesweit agierenden Netzes von Kinderhändlern wurden. Der Staatsanwaltschaft in Madrid liegt eine Sammelklage vor, in der 261 ähnliche Fälle aufgelistet sind. "Zwischen 1960 und 1990 wurden nach unseren Schätzungen in Spanien mehr als 250.000 Babys ihren Eltern geraubt und an kinderlose Paare verkauft", sagt Antonio Barroso (42). Er hat die Vereinigung Anadir gegründet, die versucht, den Verbrechen auf die Spur zu kommen.

Wegen "schädlicher Ideen" für die Erziehung ungeeignet

Vor drei Jahren hat Barroso herausgefunden, dass sein eigenes Leben auf einer Lüge basierte. Damals hatte ihn sein Freund Juan Luis Moreno angerufen. Beide seien Schicksalsgenossen, teilte er dem völlig ahnungslosen Antonio mit, ihre Eltern hätten sie in einer Klinik in Saragossa gekauft. Das hätte ihm sein Vater auf dem Sterbebett gestanden. Heimlich machte Antonio einen DNA-Abgleich mit seinen vermeintlichen Eltern – der Befund war negativ. Seine Mutter gestand ihm daraufhin, dass sie und ihr Mann tatsächlich nicht seine leiblichen Eltern seien. Eine Nonne hatte Antonio seinerzeit verkauft, für 200.000 Peseten, soviel kostete 1979 eine Wohnung. "Zehn Jahre lang mussten meine Adoptiveltern, einfache Arbeiter in einer Zementfabrik, mich in Raten bezahlen", erzählt Antonio.

Der Raub der Neugeborenen war bestens organisiert, zahllose Kliniken im ganzen Land sind involviert. Eigentlich kannte man die systematischen Kindesentführungen nur aus Zeit des Bürgerkriegs (1936-1939) und den schweren Nachkriegsjahren. Zehntausenden inhaftierter republikanischer Frauen wurden in jenen dunklen Jahren die Kinder, die im Gefängnis zur Welt kamen, weggenommen und an regimetreue, oft kinderlose Paare weitergereicht. Den Müttern wurde eingetrichtert, sie seien wegen "ihrer schädlichen Ideen" für die Erziehung ungeeignet.

Lukratives Geschäft für Hebammen und Pfarrer

Spaniens Richter Baltasar Garzón war der erste Jurist, der vor drei Jahren dieses Kapitel faschistischer Repression unter die Lupe nahm. Er kann sich aber nicht mehr darum kümmern, weil er vom Dienst suspendiert wurde und im Ausland lebt. "Der Raub von Kindern – einst politisch motiviert – wurde nach dem Ende des Franco-Regimes zum lukrativen Geschäft für Ärzte, Hebammen, Pfarrer und Beamte", erläutert Antonio.

Seit der Gründung von Anadir gehen täglich rund 300 Anfragen und Hilfsgesuche ein. Der Verband arbeitet mit dem valencianischen Anwalt Enrique Vila zusammen, er war es, der die Sammelklage bei der Madrider Generalstaatsanwaltschaft eingereicht hat. "Es werden in der nächsten Zeit noch viel mehr Fälle illegaler Adoptionen ans Tageslicht kommen", sagt Vila, der sich seit 15 Jahren mit dem Thema befasst.

Zwei Millionen Adoptionen gab es vom Ende der Franco-Zeit bis heute, etwa zehn bis fünfzehn Prozent, so seine Schätzung, basieren auf gefälschten Papieren. Viele Kliniken, insbesondere die konfessionellen, weigerten sich, dem Anwalt Akteneinsicht zu gewähren.

Ein Zwilling wurde für tot erklärt

Opfer waren meist finanziell schlecht gestellte Frauen oder Alleinerziehende. Doch auch verheiratete Paare wurden ihrer Kinder beraubt. "Zwillingsgeburten waren auch eine Möglichkeit, an ein Kind heranzukommen, eines von beiden wurden dann für tot erklärt", sagt Vila. Hebammen, Nonnen, Standesbeamte und Krankenhauspersonal arbeiteten gegen entsprechende Gegenleistung bereitwillig mit. Besonders die Gynäkologen besserten durch den Verkauf von Babys ihr Gehalt auf. "Es ist schon auffällig, wie viele von ihnen gerade hier in Valencia eine Wohnung nach der anderen kauften", erläutert Vila.

Die Mediziner will der kämpferische Spanier jetzt zur Aussage zwingen, vorausgesetzt der Madrider Staatsanwalt gibt ihm grünes Licht, in allen Regionen Nachforschungen anzustellen. Als Beweisdokumente hat Vila eine Sammlung gefälschter Geburts- und Sterbeurkunden hinzugefügt sowie diverse Geständnisse von Krankenschwestern, die bezeugen, dass der Verkauf von Neugeborenen an ihrem Arbeitsplatz eine gängige Praxis war. Die Adoptiveltern trifft nur in einigen Fällen Schuld. Im Falle von Antonio etwa waren sie sogar der festen Überzeugung, etwas Gutes zu tun. In Saragossa hatte man ihnen seinerzeit erzählt, Antonios leiblicher Vater sei Analphabet und die Mutter eine Prostituierte.

"Stecke ein Kissen unter den Pullover"

Anders gelagert ist der Fall von Inés Pérez (87), die selbst keine Kinder haben konnte und ebenfalls ein Mädchen kaufte, das heute 41 Jahre alt ist. Man sagte ihr, es sei das Kind aus einer außerehelichen Beziehungen einer verheirateten Frau, die es daher in Adoption gegeben habe. Auf ihre Mutterrolle war Inés sorgfältig vorbereitet worden. Der Hausarzt hatte ihr geraten, eine Schwangerschaft vorzutäuschen, bis der "Nachschub" aus dem Madrider Krankenhaus San Ramón bereit stünde. "Stecke ein Kissen unter den Pullover und erzähle deinen Nachbarinnen, wie sehr du dich freust, täusche Übelkeit vor", so seine Ratschläge. Inés zählt heute zu den wichtigsten Zeugen von Vila, sie ist bereit auszusagen. "Jetzt habe ich wenigstens mein Gewissen beruhigt", sagt die alte Dame.

Auch ein ehemaliger Totengräber aus Granada hat inzwischen gestanden, jahrzehntelang leere Kindersärge unter die Erde gebracht zu haben. "Das Problem ist, dass die Zeit drängt", sagt Vila, der weiß, wie langsam die Mühlen der spanischen Justiz mahlen. "Einige der Opfer sind schon sehr alt und könnten bald sterben, ohne ihre Kinder je kennen gelernt zu haben." Seine wichtigste Forderung ist die Erstellung einer DNA-Datenbank, damit Kinder und Eltern sich leichter finden können, das Geld dafür soll die spanische Regierung bereit stellen.

Auch Paloma hat jetzt wieder neue Hoffnung geschöpft. Der Arzt, der seinerzeit bei der Geburt des Kindes dabei war, praktiziert noch immer in der Madrider Privatklinik San Carlos. Paloma arbeitet heute als Lehrerin in der Erwachsenenbildung, Kinder hat sie keine mehr bekommen. In den ersten Jahren nach der Entbindung passte sie mehrmals den Arzt von der Arbeit ab und flehte ihn an, ihr die Wahrheit zu sagen. "Er drohte, mich festnehmen zu lassen und in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen, ich fühlte mich so hilflos", erzählt sie.

Durch die Vernetzung über Anadir hat sie jetzt auch herausgefunden, dass eben jener Arzt vor Jahren wahrscheinlich auch einer anderen Frau das Kind wegnahm. Auch deren Baby kam angeblich deformiert zur Welt und verschwand, ohne, dass es der Mutter, die mittlerweile in Strassburg lebt, gezeigt wurde. Paloma vermutet, dass auch Politiker und hohe Beamte ins Geschäft mit dem Babyhandel involviert waren, Beweise gibt es freilich nicht. Jetzt kann sie es kaum abwarten, bis der Mediziner aussagen muss: "Er ist die Spur, die zu unseren Kindern führt."


Quelle